[ PORTRÄTS ]

Frankreich // Photographie

Begegnung mit Yohanne Lamoulère - Photographe - Frankreich

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Begegnung mit Yohanne Lamoulère

"Mein Versuch bei der Fotografie: die Quintessenz des Lebens herauszuarbeiten."

Mit ihrem Objektiv, das der Enthüllung des Verborgenen dient, ergründet die Fotografin Yohanne Lamoulère die Geheimnisse der Menschheit und ihrer Zerbrechlichkeit, um die Unsichtbaren ans Licht zu bringen.

Ihre erzählerische Arbeit, der sie in Eigenregie oder zusammen mit dem Kollektiv Tendance Floue nachgeht, entsteht im Laufe ihrer Begegnungen, insbesondere mit Arbeitern und Bauern. Auf Ihren Streifzügen hat sie auch die Bekanntschaft von Winzern und Winzerinnen gemacht, die sich der Arbeit mit dem Lebendigen verschrieben haben.

Begegnung in Arles anlässlich ihrer Ausstellung „Les Enfants du fleuve“, um klischeefrei über Wein und vor allem über diejenigen zu sprechen, die ihn produzieren, von der Loire bis nach Georgien.

Porträtserie bekannter oder weniger bekannter Weinliebhaber; Sie sind Künstler, Schriftsteller, Abenteurer, Köche, Sommeliers, Konditoren, ... und erzählen uns von ihrer innigen Beziehung zum Wein.
Unterschrift EuroCave

Gleichzeitig zu Ihrer Ausstellung „Les enfants du fleuve“ für das Fotofestival Les Rencontres photographiques d'Arles veröffentlichen Sie das Buch „Regarde tout, t'es mort“ (Schau Dir alles an, du bist tot). Welcher rote Faden zieht sich durch Ihre Arbeit?

YOHANNE LAMOULÈRE

Dieses Buch richtet sich zuallererst an meine Mutter. Es geht um ihre Geschichte, unsere Erinnerung und ihre große Charakterstärke. Dieses Buch erklärt viele Dinge meiner Arbeit, insbesondere meine Beziehung zum Schweigen, das in unserer Familie allgegenwärtig war. Es stimmt, dass ich nicht viele Verständnishilfen gebe. Ich habe mich immer dafür entschieden, dem Beschauer Raum zu geben, damit er beim Betrachten meiner Fotos seine eigene Geschichte schreiben kann. Bei „Les Enfants du fleuve“ ist die Rhône die zentrale Figur, doch jedem wird natürlich die Freiheit zur eigenen Interpretation dieser Ausstellung zugestanden. Das kann auch das universelle Element sein. Seltsamerweise besteht die Stärke eines Fotos darin, dass es eine Erzählung aus sich selbst heraus entstehen lässt und nicht, weil eine Erklärung geliefert wird. Sonst wäre es schon misslungen.

Zitat Piktogramm

Die Stärke eines Fotos besteht darin, dass es eine Erzählung aus sich selbst heraus entstehen lässt.

Begegnung mit Yohanne Lamoulère - Photographe - Frankreich
Unterschrift EuroCave

Befinden Sie sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Kunst- und Dokumentarfotografie?

YOHANNE LAMOULÈRE

Ja genau, diese Gratwanderung gefällt mir. Ich bin in einer Welt des Schweigens geboren, in der man nichts von sich erzählt und seine Gefühle nicht preisgibt. Ich habe mich daher ganz natürlich der Dokumentarfotografie zugewandt, weil mir meine Erfahrung verbot, über mich selbst zu sprechen. Die Beziehung durfte nur zur Andersartigkeit bestehen. Zur Haltung des Palästinensers, der den Stein wirft. Zur permanenten Auseinandersetzung mit der Realität. Mein Vater hat mir immer gesagt: „Wenn es dir schlecht geht, geh auf keinen Fall zu einem Psychiater, geh lieber in eine Bar“. Mein erster Job hat sich daher dokumentarisch mit dem Thema der ausländischen Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt. Ich habe dieses Thema gewählt, weil es Erinnerungen an meine Kindheit, an diese Prekarität geweckt hat, die ich erlebt habe und von der ich mich befreien wollte. Zwischen meiner Subjektivität und dem eher dokumentarischen Blick lerne ich langsam, loszulassen und mir selbst zu vertrauen.

Unterschrift EuroCave

Ist Ihre Ausdrucksbühne, die Fotografie, auch eine Form der Rehabilitierung?

YOHANNE LAMOULÈRE

Ich habe durch die Fotografie meine Art zu atmen gefunden. Die Stille und die Identitäten der Leben zu kitten und mit den Menschen, die ich fotografiere, eine Form des Gleichgewichts zu teilen. Die Fotografie ist entweder ein Boxring, ein Kampfsport, bei dem jeder nur sehr wenig Zeit hat, um sich auszudrücken, oder eine Liebesbeziehung, die mehr Zeit braucht.

Unterschrift EuroCave

Und die fotografische Begegnung mit dem Wein?

YOHANNE LAMOULÈRE

Ich hatte für einen Auftrag Fotos für ein Event rund um Naturwein gemacht, und eines schönen Tages rief mich Thierry Puzelat, der Winzer vom Clos du Tue-Bœuf in Cheverny, an und sagte zu mir: „Du hast das schönste Porträt von meinem Bruder und mir gemacht, das ich je in meinem Leben gesehen habe, und ich möchte, dass du zum Weingut kommst und Fotos machst“. So bin ich in den Alltag der Winzer und ihre Beziehung zum Lebendigen eingetaucht. Ich habe hauptsächlich Winzer und Winzerinnen an der Loire besucht, weil das die gewählte Perspektive war, und ich bin in ihre Wirklichkeit eingetaucht, bevor ich sie fotografiert habe. Allerdings bestand die Gefahr darin, klischeehaft-idyllische Bilder zu machen, auf denen man die Weinbauern in ihren Weinbergen sieht. Dabei ging es in erster Linie darum, ihre Beziehung zum Leben und Lebendigen, zu ihrer täglichen, weit weniger rosigen Arbeit, ihre Beziehung zum Weinkeller, zu den Weinen, zur Weinbereitung und zu ihrem Weingut einzufangen.

Begegnung mit Yohanne Lamoulère - Photographe - Frankreich
Zitat Piktogramm

Ich habe zuerst die Winzer und dann erst ihre Weine entdeckt, und durch dieses Zusammenspiel habe ich ihre Erzeugnisse lieben gelernt.

Unterschrift EuroCave

Warum ausschließlich Naturwein?

YOHANNE LAMOULÈRE

Weil ich Menschen getroffen habe, die den Cursor verschoben haben und aus der Reihe getanzt sind, wie alle, die ich fotografiere. Ich spüre, dass es sich um die richtigen Personen handelt, meine Perspektive lotet in erster Linie das Menschliche aus. Das Produkt, das sie aus ihren Gefühlen, aus ihren Lebensentwürfen heraus entstehen lassen, ähnelt auch sehr meinem Versuch bei der Fotografie: die Quintessenz des Lebens herausarbeiten. Ich habe zuerst die Menschen, die Winzer und dann erst ihre Weine entdeckt, und durch dieses Zusammenspiel habe ich ihre Erzeugnisse lieben gelernt als das offensichtliche Ergebnis dessen, was sie ausstrahlen. Wie Jacques und Agnès Carroget von der Domaine la Paonnerie zum Beispiel, bei denen die Unmittelbarkeit des Kontakts im Glas gelöst wurde. Und dann diese Heilige Dreieinigkeit: Der Wein, die Erde, der Mensch. Und jedes Glas ist die Synthese dieser Trias.

Zitat Piktogramm

Der Wein, die Erde, der Mensch. Jedes Glas ist die Synthese dieser Trias.

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Unterschrift EuroCave

Was sind das für Weine?

YOHANNE LAMOULÈRE

Also, entsprechend der Prioritäten, natürlich: Le Clos du Tue-Bœuf von Thierry Puzelat, vor allem der Pineau d’Aunis, der mir die Gemeinschaft und Geselligkeit eröffnet hat. Und die Cuvées von Zoé, seiner Tochter, die jetzt das Weingut leitet. Der Weinkeller POUR von Nathalie Cornec, die seit 2015 einen urbanen Weinkeller in Marseille leitet und dort natürliche und einfache Weine entsprechend ihrer eigenen Persönlichkeit anbietet. Die Familie der Domaine Grégory White im Languedoc für ihre Leichtigkeit und Tief(e)gründigkeit zugleich. Und für freundschaftliche Begegnungen der Clos Marfisi mit der Cuvée Patrimonio Mon Amour oder Trespotz von der Domaine La Calmette in Cahors, ein frischer und leichter Malbec. Die Liste kann noch um viele weitere Winzer und Winzerinnen verlängert werden.

Begegnung mit Yohanne Lamoulère - Photographe - Frankreich
Zitat Piktogramm

Niemand interessiert sich wirklich für all jene, die diesen historischen und von Menschlichkeit geprägten Wein herstellen.

Unterschrift EuroCave

Die Winzer begleiten dich seither bei deiner Arbeit?

YOHANNE LAMOULÈRE

„Bei diesen Winzern jedenfalls habe ich eine Liebe zu ihrem Leben entwickelt, um sie zu fotografieren, denn ich bin absolut nicht in der Lage, Fotos zu machen, ohne zu lieben. Es ist schwierig, einen Auftrag abzuwickeln, wenn ich den Auftraggeber nicht mag, auch wenn man mich manchmal gerade wegen dieses ungeschminkten und ungefilterten Blicks anfordert. Aus diesem Grund bin ich mit Thierry Puzelat (Clos du Tue-Bœuf) nach Georgien gereist und werde wieder dorthin reisen, um ein Buch nicht über georgische Weine, sondern über die Menschen, die sie herstellen, zu schreiben, denn niemand interessiert sich wirklich für all jene, die diesen historischen und von Menschlichkeit geprägten Wein herstellen. Thierry arbeitet bereits seit zwei Jahren an diesem Buch, um das Vermächtnis dieser Winzer und Winzerinnen wiederzugeben, all derer, die sich handwerklich dafür eingesetzt haben, dass man Naturwein in seiner einfachsten Form wiederentdeckt. Ich denke dabei insbesondere an Tamuna Bidzinashvili und Ketevan Berishvili, zwei junge Winzerinnen in Kachetien, die außergewöhnliche Saperavi erzeugen (Anm. d. Red.: Rotwein aus der gleichnamigen georgischen Rebsorte). Hier kündigt sich ein neues und herrliches Abenteuer an.

Zitat Piktogramm

Ich bin absolut nicht in der Lage, Fotos zu machen, ohne zu lieben.

Begegnung mit Yohanne Lamoulère - Photographe - Frankreich

Artikel - Élodie Louchez

Elodie Louchez arbeitete als Chefredakteurin im Hörfunk für die Gruppe NRJ und anschließend für Gesellschafts- und Kulturmagazine für France 3, France 5 und Pink Tv mit Michel Field. Heute ist sie Journalistin und Autorin für Erlebnismagazine und gesellschaftlich relevante Dokumentarfilme und schreibt insbesondere zum Thema Ökofeminismus. Sie ist Mitglied der Gruppe „Syndicat de défense des vins naturels“, die sich für natürliche Weine einsetzt, und hat vor fünf Jahren mit ihrer Lebensgefährtin Marie Carroget in Nantes die Messe „Canons“ ins Leben gerufen, die erste Messe für Winzerinnen, die Naturwein herstellen.

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